Zumutbare WAHRHEIT
Dieses Zitat stammt von der in Klagenfurt geborenen Ingeborg Bachmann (1926- 1973), die zu den bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen gezählt wird und zwar aus ihrem Werk „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“
Anscheinend gibt es mehrere Wahrheiten auf unserer Welt, je nach Standpunkt, kulturellem, religiösem, wirtschaftlichem, gesellschaftlichem und politischem Umfeld, frei nach dem Motto „es kann nicht wahr sein, was nicht wahr sein darf.“
Österreichische Historiker haben sich in den letzten Monaten eingehend mit der Biographie von Friedrich Ruttner beschäftigt, jenem Bienenwissenschaftler, auf dessen Erkenntnisse sich die Bienensachverständigen des Landes Kärnten berufen Rassenkontrollen und Rassenbestimmungen nach dem Kärntner Bienenwirtschaftsgesetz durchzuführen und exekutieren zu lassen.
Wer war nun dieser Friedrich Ruttner? Auf der Homepage des Oberösterreichischen Landesmuseums ZOBODAT (www.zobodat.at) wird er als tadelloser, engagierter Wissenschaftler beschrieben, der die Imkerei nachhaltig beeinflusste und immer noch beeinflusst.
Ruttner, Prof. Dr. Friedrich (1914-1998) war ein Sohn des berühmten Limnologen Prof. Dr. Franz Ruttner, der jahrzehntelang Leiter der Biologischen Anstalt Lunz am See war. 1948 gründete Franz Ruttner im Rahmen der Biologischen Anstalt eine Abteilung für Bienengenetik, in der auch sein Sohn Friedrich unter bescheidenen Bedingungen und mit Unterstützung der Imkerschaft mit der wissenschaftlichen Arbeit begannen. Den ersten großen Durchbruch und die nationale und internationale Anerkennung brachte 1954 der Nachweis der Mehrfachpaarung bei Bienen bei den Versuchen auf der Mittelmeerinsel Vulkano. Diese Ergebnisse, die morphometrischen Studien an den Unterarten der Art Apis mellifera und die bis heute in der Bienenkunde Lunz am See laufenden Versuche über das Paarungsverhalten der Honigbiene brachten für die imkerliche Zuchtpraxis große Fortschritte. Die Ruttners waren auch die Ersten, die die künstliche Besamung der Bienenkönigin in Europa zur routinemäßigen Paarungsmethode entwickelten.
1965 folgte Friedrich Ruttner einer Berufung an die Universität Frankfurt. Hier leitete er bis zu seiner Emeritierung das Bieneninstitut Oberursel. Eine große Anzahl von wissenschaftlichen Veröffentlichungen (viele davon gemeinsam publiziert), Büchern und Artikeln in Fachzeitschriften zeugen von seinem Schaffen. Friedrich Ruttner befasste sich in den letzten Jahrzehnten seiner Tätigkeit noch besonders mit den Arten und Unterarten der Gattung Apis. Noch knapp vor seinem Tod (1998 im 84. Lebensjahr) erschien als Ergebnis dieser Arbeit das Buch "Die Naturgeschichte der Honigbiene" (Friedrich Ruttner, Ehrenwirth Verlag, München).
Aber was machte Friedrich Ruttner vor dem Jahre 1948? Licht in diese anscheinend gewollte „biografische Lücke“ haben einige Dissertationen und intensive Recherchen von international anerkannten Historikern, unter anderem im Bundesarchiv Berlin (personenbezogene Unterlagen der SS und SA – Dr. Friedrich Ruttner), gebracht.
Die Fakten, die dabei von den Wissenschaftlern zu Tage befördert wurden, lassen den Bienenforscher Friedrich Ruttner in einem anderen Licht erscheinen. Friedrich Ruttner absolvierte ein humanistisches Gymnasium, welches er mit der Matura im Juni 1933 abschloss um dann ein Medizinstudium an der Universität Innsbruck zu beginnen. Als 19-jähriger Student trat er im Jänner 1934 dem „Alpin-Sturm“, der damals illegalen Innsbrucker SA, der paramilitärischen Kampforganisation der NSPAP, bei und war nach eigenen Angaben, belegt durch einen handschriftlichen Lebenslauf, an allen „Kampf- und Propagandaaktivitäten“ gegen die österreichische Regierung beteiligt. Wegen dieser NS-Aktivitäten saß Ruttner im Frühjahr 1935 drei Wochen in Untersuchungshaft, und wurde 1936 wegen illegaler Aktivitäten für den Nationalsozialismus zu sechs Monaten Haft verurteilt, zudem wurde er vorübergehend vom Studium ausgeschlossen. Im Februar 1938 wechselte er von der SA zur SS in deren Reihen er, wieder nach eigenen Angaben, aktiv am „Umsturz“, der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich am 11. und 12, März 1938, mitwirkte. Ruttner promovierte am 22. Dezember 1938 und wurde in der SS dem Sanitätsturm II/22 eingegliedert. Ab 1939 war er als Neurologe und Genetiker Mitarbeiter am Erbbiologischen Forschungsinstitut der Führerschule der Deutschen Ärzteschaft in Alt Rehse, die unter dem Kommando des hochrangigen SA-Gruppenführer und NS-Rassenhygieniker Hermann Boehm stand.
Exkurs Hermann Boehm
Hermann Alois Boehm (1884 - 1962) war ein deutscher Arzt, Professor für „Rassenhygiene“ und für die NSDAP als vielfach aktiver hochrangiger SA-Sanitäts-Gruppenführer tätig. Er forschte und publizierte zur Rassenlehre unter dem Begriff Rassenpflege (heute Eugenik).
Von 1931 bis 1933 war Boehm Referent für Rassenhygiene im Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund (NSDÄB). Von Juni 1933 bis Juli 1934 leitete Böhm die Abteilung „Rassenhygiene“ im Rechtsausschuss für den Volksgesundheitsdienst. Böhm wurde im November 1934 Honorarprofessor für „Rassenpflege“ an der Universität Leipzig. Ab Anfang August 1934 leitete Boehm als Vorstand das Pathologische Institut am Rudolf-Heß-Krankenhaus in Dresden, an dem nationalsozialistische Ärzte ausgebildet wurden und sich das Mutterhaus der Braunen Schwestern befand.
Von März 1937 bis 1942 schulte Boehm auf Weisung der Reichsärztekammer Mediziner im Bereich „Erb- und Rassenpflege“ am Erbbiologische Forschungsinstitut der Führerschule der Deutschen Ärzteschaft in Alt Rehse.
Ein Hauptanliegen war Boehm dabei die Jungärzte zu erreichen und für die Vererbungslehre zu interessieren. Bei den Jungarztkursen wurden so genannte Drosophila-Kurse abgehalten. Die 1520 Teilnehmer zählenden Gruppen konnten selbst Kreuzungen vornehmen. Da das Forschungsinstitut während insgesamt elf Jungärztekursen bestand, könnten somit etwa 150 bis 200 Jungärzte geschult worden sein. Tatsächlich schätzte Boehm deren Gesamtzahl 1940 aber nur auf rund 100. Er hoffte dadurch, „in dem Institut Nachwuchs auf die Gebiete der Erbbiologie und Rassenhygiene heranzuziehen.“ Sein Plan war, geeignete Jungärzte in zweijährigen Lehrgängen (ein Jahr bei ihm, sechs Monate beim Direktor des Rassenbiologischen Instituts in Königsberg, Lothar Loeffler, ein halbes Jahr Jahr bei Otmar von Verschuer in Frankfurt) fortzubilden und so Dozenten für das Fach Rassenhygiene auszubilden. Bei ihm sollte dabei das Experimentelle gelernt werden, bei Loeffler sollten rassenkundliche Fragen bearbeitet und bei von Verschuer schließlich die Grundlagen der Erbpathologie erlernt werden. Dadurch hoffte er, die seiner Ansicht nach, schlechte Qualität der Ausbildung an den Universitäten in Erbbiologie und Rassenhygiene mittelfristig durch Anlernen geeigneter Dozenten auf diesem Gebiet zu verbessern. Dieses Vorhaben wurde zwar von der Reichsärzteführung begrüßt, scheiterte aber an finanziellen Problemen. Lediglich zwei weitere Assistenten wurden ihm genehmigt. Das reichte laut Boehm gerade aus, die Jungärztekurse abzuhalten und ein wenig auf dem für Boehm als sehr aussichtsreich angesehenen Gebiet der Populationsgenetik und damit der „Ausbreitung krankhafter Erbanlagen in der Bevölkerung“ zu forschen. Von der geplanten Nachwuchsförderung blieben bis zu Beginn des Krieges (und somit wahrscheinlich auch insgesamt) lediglich drei Jungmediziner, die diese Art von Weiterbildung durchliefen. Dies waren R. Espenschied, Fr. Ruttner und Gerhard Schubert. Alle drei sollen sich auch nach der Weiterbildungszeit in Alt-Rehse weiter mit Rassenhygiene und Erbbiologie beschäftigt haben.
Dass sich Friedrich Ruttner weiter mit Rassenhygiene und Erbbiologie intensiv beschäftigt hat ist ebenfalls historisch belegt. Im Band 12 der Fachzeitschrift „Der Erbarzt“, Ausgabe Juli/August 1944 (Seiten 93 ff) beschreibt er unter dem Titel „Beitrag zum Erbbild der Mikrokephalie“ seine Forschungstätigkeit am Erbbiologischen Forschungsinstitut in Alt Rehse. Sein Spezialgebiet war die Vermessung von Menschen, die an einer angeborenen Gehirnmissbildung, der Kleinköpfigkeit durch Verkleinerung des Gehirnschädels litten. In einer Sippentafel wurde die Messungen zusammengefasst und die einzelnen Daten mit denen anderer Familienmitglieder verglichen. Die Sippe Ploner wird von Ruttner in seiner Zusammenfassung folgend beschrieben: „In der Familie zweier Mikrokephaler Geschwister mit sehr geringen Kopfumfang (37 bzw. 44 cm) finden sich einige in dieselbe Richtung weisende Abweichungen: Vatersschwester kleinköpfig und beschränkt, Vatersvater schwachsinnig bei zu kleinem Kopf und Strabismus convergens (Einwärtsschielen). In den Seitenlinien finden sich außerdem noch einige Fälle von Schwachsinn.“
Was im Dritten Reich am „Erbbiologischen Forschungsinstitut“ der „Führerschule der deutschen Ärzteschaft“ in Alt Rehse (dem NS-Musterdorf in Mecklenburg), an der spätere Bienenforscher Friedrich Ruttner als Erbbiologe und Rassengenetiker tätig war geschah ist heute kaum erklärbar. Auf der Homepage www.hierdadort.de findet man unter dem Titel „Des Teufels hübsches Erbe“ folgende Zeilen: Aus Schloss und Gutspark wurde die „Führerschule der deutschen Ärzteschaft“. Zur Einweihung verkündete der spätere Reichsärzteführer Leonardo Conti: „Der Arzt ist berufen dem ganzen Volkskörper in Deutschland zur Gesundung, zur allmählichen Ausmerzung des Artfremden und zur Erhaltung des Arteigenen zu verhelfen.“
Zwischen 1935 und 1941 durchliefen etwa 12.000 Ärzte, Hebammen und Apotheker Alt Rehse. Sie blieben zwischen eineinhalb und vier Wochen und wurden im Rahmen der NS-Ideologie in Rassenlehre und Euthanasie geschult – in der Aussonderung und Vernichtung so genannten lebensunwerten Lebens. Die Mediziner sollten lernen, Menschen auf ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit abzuklopfen, „Ballastexistenzen“ und „Defektmenschen“ auszusortieren. Und das Gelernte setzten sie um. Im Rahmen der „Aktion T4“ wurden allein in den sechs „Tötungsanstalten“ (Brandenburg, Hadamar, Grafeneck, Sonnenstein/Pirna, Hartheim und Bernburg) 70.000 Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen vergast. Im ganzen Reich wurden weitere 400.000 Menschen zwangssterilisiert. Viele dieser Ärzte praktizierten nach 1945 unbehelligt weiter …
Pamphletius
im August 2019
Verwendete Literatur
Thomas Maibaum, „Die Führerschule der deutschen Ärzteschaft Alt-Rehse“, Dissertation an der Universität Hamburg 2007
Rainer Stripf, „Die Bienenzucht im der völkisch-nationalistischen Bewegung“, Dissertation an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, 2018
Bundesarchiv Berlin, personenbezogene Unterlagen der SS und SA (Dr. Friedrich Ruttner)
Friedrich Ruttner „Beitrag zum Erbbild der Mikrokephalie“ in „Der Erbarzt“, Ausgabe Juli/August 1944 (Seiten 93 ff)
Rainer Stommer, „Medizin im Dienste der Rassenideologie“, die Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ in Alt Rehse, 2. Auflage, Oktober 2017