"Auf Sanitäter schießt man nicht!"

„Menschen werden sich immer dann zu unfairen Mitteln und betrügerischen Handlungen hinreißen lassen, wenn es darum geht, reelle oder auch nur scheinbare Existenzkämpfe psychischer und/oder materieller Natur zu bestehen“, bringt es der Sportpsychologe Mag. Dr. Thomas Brandauer auf den Punkt, wenn es gilt, das Phänomen Doping zu erklären.
Thomas Brandauer, einst selbst ein österreichischer Spitzenschwimmer, Leiter des Sportpsychologischen Kompetenzzentrums am Universitätssportinstitut, lehrt an der Universität Klagenfurt angewandte Sportpsychologie und legt besonderen Wert darauf, die „Mehrdimensionalität“ des Dopingproblems zu erkennen und nicht einen einzelnen Sportler als Dopingsünder zu kriminalisieren.
„Eines gleich vorweggenommen, im Leistungssport ist die Leistung das Maß aller Dinge. Es zählen klare Werte. Der Erste ist mehr Wert als der Zweite, der Zweite ist besser als der Dritte. Dieser Gütemaßstab ist verbindlich, der Zweite ist bereits der erste Verlierer, das wird vom Leistungssystem so vorgegeben“, stellt der Sportpsychologe klar, dass es ohne diese Werte und Normen keine Leistungsmotivation geben kann.
„Der Sport ist immer Abbild der gesellschaftlichen Normen und Werte. Das Schneller, Höher, Weiter und Besser aus der Arbeitswelt ist Antrieb für den Menschen, es ist Chance, aber auch Gefahr“, so Brandauer, „Gefahr dann, wenn man nicht gelernt hat, mit Niederlagen umzugehen, Gefahr dann, wenn SportlerInnen sich nur über die Leistung definieren und Misserfolg als Entwertung der eigenen Person ansehen.“
Erfolg und Misserfolg gehören zum Sport, sind untrennbar miteinander verbunden, sie gehören zusammen, sind Teil des Leistungssports.
Brandauer: „In dieser Frage ist das Umfeld der SportlerInnen besonders gefordert. Trainer, Funktionäre und andere Bezugspersonen aus dem persönlichen Umfeld der SportlerInnen sind entscheidend, wie mit Sieg und Niederlage umgegangen wird. Wenn nach Niederlagen Ausreden gesucht und gefunden werden, anstatt sich ihr zu stellen.“
Der Sportpsychologe warnt davor, alle Dopingsünder in einen Topf zu werfen und zu kriminalisieren. „Zuerst wird den Siegern zugejubelt. Sie werden in den Sporthimmel gehoben, um dann als kriminelle Verbrecher beschimpft zu werden, wenn es einen Dopingverdacht gibt, wie es beim Radprofi Marco Pantani geschah. Speziell im Radsport war Doping jahrelang ein geduldetes Kavaliersdelikt, bei dem die Protagonisten absichtlich weggeschaut haben, frei nach dem Motto, warum kann ich nicht bei Rot über die Kreuzung gehen, wenn kein Auto kommt, schließlich ging es um wirtschaftliche Existenzen.
Und da sind wir bei einem zutiefst menschlichen, psychologischen Phänomen: Es geht um die wirtschaftliche Existenz von Profisportlern, von Rennställen von einer ganzen Industrie, einem Wirtschaftszweig wie die Tour de France.
Wenn es ums (Über)leben geht, dann werden Menschen unfair. Ethische Richtlinien und Grundwerte werden über Bord geworfen, allein des Sieges, des Erfolges um jeden Preis, willen. Vor dem Vietnamkrieg galt zum Beispiel das ungeschriebene Gesetz „Auf Sanitäter schießt man nicht“ – nur, beide Parteien hielten sich nicht daran, es ging ums Überleben. Allein die Sportler an den Pranger zu stellen wäre einfach und auch falsch.
Der Sportler ist das schwächste Glied in der durchorganisierten Dopingkette und wird von seinem Umfeld dazu gebracht, unfaire Mittel einzusetzen. An den SportlerInnen sollte allerdings die Dopingbekämpfung ansetzen, nicht durch Kriminalisierung der Dopingsünder, sondern durch eine Vermittlung von neuen Werten und Zielen, dass Leistung nicht allein seligmachend ist, dass man zielunabhängig seinen (Leistungs)Weg gehen kann, den Mehrwert des Sports, abseits der absoluten Leistung erkennt und immer wieder seine persönlichen und sportlichen Ziele neu definiert. Wir werden Doping nie ganz ausschließen aber sicherlich den Dopingmissbrauch einschränken können, und in dieser Frage ist der gesamte Sport gefordert, nicht nur die SportlerInnen. Und noch Eines: Im Höhenbergsport, bei den Extremkletterern, ist Doping legitim, hat dort einen ganz anderen Stellenwert. Dabei geht es ums echte ‚Überleben‘ in Seehöhen über 7000 m.“
Blickpunkt 205 vom 11. Oktober 2007